5.1 Mit dem Skalpell gegen schweres Gemüt
06.01.2016
Während Jahren litt Jolanta Oberli unter Müdigkeit, Antriebslosigkeit und Ängstlichkeit. Erst eine Operation der Nebenschilddrüsen brachte Linderung.
Es begann vor 18 Jahren. Jolanta Oberli aus Embrach fühlte sich öfter müde, als sie es sich gewohnt war. «Ich war antriebslos, schnell erschöpft, konnte mich nur schwer konzentrieren», erzählt die heute 61-Jährige. «Für mich als Powerfrau war das ungewohnt.» Als die Müdigkeit auch nach mehreren Wochen noch nicht abnehmen wollte, suchte Oberli schliesslich einen Arzt auf und schilderte ihm ihre Symptome. Dieser diagnostizierte eine Depression, verschrieb Oberli Antidepressiva.
Geholfen habe das nichts, sagt Oberli. Ihr Zustand habe sich weiterhin verschlechtert. «Ich wurde immer vergesslicher und missmutiger, wollte möglichst keinen Kontakt mit anderen Menschen pflegen», sagt Oberli. Sie wurde ängstlich, traute sich plötzlich nicht mehr, durch Tunnels zu fahren. Nach einer Zugfahrt an den Hauptbahnhof zitterte sie einmal so stark, dass die Ambulanz für die ehemalige Buchhalterin gerufen werden musste. Zudem litt Oberli vermehrt unter Krämpfen. «Am schlimmsten war aber, dass ich nicht wusste, was mit mir los war, ich als depressiv abgestempelt wurde und die Ärzte mir nicht glauben wollten, dass das nicht stimmt.»
Keine psychische, sondern eine physische Ursache
Die letzten vier Jahre seien besonders schlimm gewesen, erzählt Oberli: Zu ihrem sowieso schon angeknacksten Gesundheitszustand gesellte sich auch noch eine Osteoporose, eine Krankheit, die wegen schnellen Abbaus der Knochensubstanz die Knochen brüchiger macht. Insgesamt sechs Brüche musste die Embracherin inzwischen behandeln lassen.
Die schlimme Diagnose hatte aber auch etwas Gutes: Einem Arzt, der Oberlis gebrochene Schulter behandelte, fiel auf, dass ihre Symptome auf eine Erkrankung der Nebenschilddrüsen hinweisen könnten. Für eine genauere Abklärung wurde Oberli ans Spital Bülach geschickt.
Dort wurde schliesslich die Ursache ihrer langjährigen Erkrankung gefunden. «Jolanta Oberlis Krankheit hatte keinen psychischen, sondern einen physischen Ursprung», sagt Georg Wille. Wille ist Chirurg und leitet den Schwerpunktbereich Endokrine Chirurgie, sein Spezialgebiet sind die Schilddrüse und die Nebenschilddrüse. Oberlis Symptome seien typisch für ein sogenanntes Nebenschilddrüsenadenom, erläutert Wille. Diese Epithelkörperchen sind vier Drüsen auf der Schilddrüse, einem kleinen Organ, das sich unterhalb des Kehlkopfs befindet. «Die Nebenschilddrüsen sind kleine Hormonfabriken», erklärt Wille.
Sie produzieren das sogenannte Parathormon (PTH), welches den Kalziumgehalt im Blutkreislauf regelt. Ein Nebenschilddrüsenadenom bedeutet, dass ein Tumor eine Nebenschilddrüse stark anwachsen lässt. Diese produziert daraufhin mehr PTH und die Konzentration des Hormons im Blut nimmt zu. Der Körper setzt dadurch mehr Kalzium im Blut frei. Dieses Kalzium löst der Körper aus den Knochen, wodurch die Knochen schwächer werden und es zur Osteoporose kommt. «Bisher kann allerdings nicht erklärt werden, warum eine Erhöhung des PTH-Spiegels im Blut auch zu einer Verschlechterung des Gemütszustands führt, das Phänomen ist aber bekannt», sagt Wille. «Die Tumore selbst sind nicht bösartig, die Lebensqualität nimmt aber durch die Krankheit merklich ab.»
Nach Operation «wie ein neuer Mensch» gefühlt
Schwierig sei es oft, die Patienten von einer Behandlung zu überzeugen, sagt Wille. Denn durch die Krankheit seien sie ängstlich und könnten oft nicht glauben, dass sich mit einer Operation, die knapp eine Stunde dauert, alles wieder bessert. «Sie verstehen nicht, dass sich ein Tumor, eine physische Ursache, so stark auf ihr Gemüt, ihre Psyche, auswirken kann.» Auch Jolanta Oberli gibt zu, dass sie von der Operation überzeugt werden musste. «Nach 18 Jahren hatte ich das Vertrauen in die Ärzte verloren und an mir selbst gezweifelt», sagt sie. Heute ist sie froh, dass sie sich zur Behandlung entschossen hat. «Seit meiner Operation im Februar fühle ich mich wie ein neuer Mensch», freut sie sich. Bereits drei Wochen nach dem Eingriff seien sämtliche Symptome verschwunden. Jetzt hofft Oberli, dass ihre Geschichte hilft, mehr Menschen auf ihre Krankheit aufmerksam zu machen. (Zürcher Unterländer)
Dieser Artikel ist ursprünglich im Zürcher Unterländer am 27.07.2015 erschienen: